Ehret die Alpenerle Teil I
Der Erlenwald in der Hinteren Röti dient dem Vieh beim Schneewetter als Schneeflucht. Dann ist es still, hie und da ertönt eine Glocke.
Die Erle heizt die Hütte und kocht das Wasser.
Sie liebt Feuchtigkeit und breitet sich am liebsten in den Minicanyons aus, durch die im Sommer das Schmelzwasser abfliesst.
Die Biologin schüttelt den Dreck ab, hält die Pflanze in die Luft und lässt ihre Wurzeln baumeln. Die senkrechten dicken Wurzeln sorgen für den Halt im Gelände, an den waagerechten dünnen hängen unzählige Kügelchen: Frankia. Was aussieht wie eine schlimme Wurzelkrankheit, sind Bakterienknöllchen. Nur in Symbiose gelingt es Baum und Bakterien, sich als Pioniere breitzumachen: Die Pflanze versorgt die Freunde im Untergrund mit organischen Verbindungen. Die revanchieren sich, indem sie Stickstoff als Nährstoff für die Erle aufbereiten. Vergelt’s Gott! Ja, da wird im Kollektiv gearbeitet.
Kommt der Schnee im Sommer, findet das Vieh Schutz für 1-2 Tage im Erlenwald, dessen Blätter ein Dach bilden. Im Verborgenen der Erlenwälder leben die Hirsche. In seinem dämmrigen Licht wächst ein saftiges Gras. Wo der Gletscher sich zurückzieht, schmilzt, geht, folgt die Erle. Sie ist einerseits Eroberer, andererseits biegt sie sich, verbiegt sich, verbeugt sich vor der Naturgewalt. Die Naturgewalt ist eine sehr hohe Gewalt.
Im Erlenwald sah ich den Auferstandenen, umringt von Felsblöcken, die losgelöst und herangetragen von Lawinen, ihren Weg suchten. Zu denen höre ich ihn sagen: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er lässt die Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Die umstehenden Erlenstauden nicken zustimmend.
Die Grünerle, die heizt und wärmt und kocht. Sie beugt sich dem kleinen wie dem grossen Schnee, lässt sich im Winter zudecken, verschütten, um im Frühjahr wieder aufzustehen. Als ob nichts geschehen wäre. Sie ist nicht vergleichbar mit der Lärche oder der Arve, die dasteht und versucht zu widerstehen und im Alter voller Blessuren ist.
Zuoberst am Berg steht sie - immer zusammen mit anderen - die Grünerle.
Erlebniswelt. Treibt man die Rinder aus dem Wald - der wölfische Hirtenhund hat sie aufgestöbert - durch das Weglose, lückenlose Aneinander der Stauden, machen sie einen langen Hals, sie strecken sich nach vorne und mit einer eleganten Bewegung des langen Halses, schieben sie die Erlenäste beiseite, gleich danach folgt der Körper des nächsten Rindes lückenlos nach. Und durch sind sie, so gehen sie vorwärts. Daneben gibt es labyrinthische Wege und Tunnel, denen der Hirte folgen kann, irgendeinmal enden sie draussen, münden die Wege in eine offene Weide. Und es wird hell. Siehe da.
Tod der Alpenerle Teil II
Es gibt einen 193seitigen Bericht über die Alpenerle. Auftrag vom BAFU. Demnach leben zum Beispiel über ein Dutzend Sorten diverser Schmetterlinge und Motten in einem Erlenwald.
- Alpenweissling (Pontia callidice)
- Veilchenscheckenfalter (Hypodryas cynthia)
- Gletscherfalter (Oeneis glacialis)
- Schillernder Mohrenfalter (Erebia tyndarus)
- Mohrenfalterart (Erebia styx; Priorität 3, RL 4a)
- Gelbbindenmohrenfalter (Erebia meolans; Priorität 4, RL 3)
- Graubrauner Mohrenfalter (Erebia pandrose)
- Darwins Wiesenvögelchen (Coenonympha darwiniana; Priorität 3, RL 4b)
- Sackträgerarten (Epichnopterix montana, Melasina ciliaris)
- Gletscherbär (Grammia quenseli; Priorität 4, RL 4a[e])
- Matterhornbär (Holoarctia cervini; Priorität 1, RL 2[e])
- Engadiner Bär (Arctia flavia; Priorität 4, RL 4a[e])
Um eine weitere Waldausdehnung vor allem im Alpenraum zu verhindern, wurde der Wald im revidierten Eidgenössischen Waldgesetz vom 1. Juli 2013 über seine Funktionen definiert: Der Wald soll Schutz, -Nutz- und Wohlfahrtsfunktionen erfüllen.
«Die Grünerle erfüllt keine dieser Funktionen», sagte die Biologin und Leiterin der Forschungsstation ALPFOR, Erika Hiltbrunner. Und startete eine grossangelegte Kampagne gegen die Erle: Alpen-Alarm: Grün-Erle fördert Lachgas und Artenschwund. Es geht um das Geld aus dem Biodiversitäts- und Landschaftsqualitäts-Topf des Bundes. Die Forscher sagen Landschaftsbild, Ressourcen, Kapitalwert, Raum, Alpenraum. Die Erlenwälder seien hässlich.
Die Erle Umweltverschmutzerin, Zerstörerin des touristischen Landschaftsbildes – die Lösung; das Engadinerschaf, das Braune.
Die Alpbewirtschafter der Zukunft: die von den Bauern ungeliebten sogenannten Ökobüros.
Erlenphobie aus Basel. Biolog/innen lieben die Feldforschung. Die Welt der Biodiversität lässt ihnen den Schädel brummen, die Vielfalt. Einfältig erscheint ihnen der Erlenwald. Wie nahe liegt das eine neben dem anderen. Die menschliche Einfalt neben der Vielfalt der Natur. Wir versuchen zu verstehen. Im Erlenwald ist es still. In der Ferne hört man das Brechen der Gletscher unter der sommerlichen Hitze. Der Erlenwald sei nicht nur nutzlos, er sei sogar bösartig. Es ist dunkel und feucht im Erlenwald. Und doch, man hört ein Singen manchmal und den Brunstruf des Hirschstiers. Irgendwann bricht die Lawine los und deckt alles zu.
Die Erle erträgt Schnee, Gleitschnee und selbst grosse Lawinen. Wohl krümmt die Schneelast den Stammfuss der Alpenerle und drückt ihre Äste zu Boden. Die biegsamen, nieder liegenden Äste federn das Gewicht des Schnees aber ab und brechen nur selten. Im Frühling nach der Schneeschmelze richten sie sich in kurzer Zeit wieder vollständig auf. In lawinengefährdeten Nordhängen ist sie daher auf grossen Flächen oft neben wenigen Weiden, Vogelbeeren oder Birken die einzige Baumart. Die Erle ist die Wärme, Schutz und Geborgenheit. Sie lebt im Kollektiv. Sie hat einen Heizwert ähnlich der Kiefer. Im Dunkeln gelagert, trocknet sie schnell. In den baumlosen Weiten der alpinen Alpwirtschaften ist sie Holzlieferant und Obhut der Herden bei Schneewettern. Hirsche leben im Erlenwald.
Lassen wir einen Mattli aus der Göscheneralp zur historischen Rolle der Grünerle (Studen) reden:
"Wir kannten einige ungeschriebene Gesetze, wie die Holzvorschriften, die hart durch gezogen wurden. Die Stüüdäplanggä war reserviert für den Kaplan, niemand durfte dort Studen schneiden. Studenhauen durfte nur einer pro Familie während eines Tages. Zum Studenhauen im Frühling ging man zu zweit oder zu dritt. Jedes verfügbare Beil wurde mitgenommen. Den ganzen Tag wurden Studen geschnitten. Wenn einer müde wurde, hat man gewechselt. Wenn einer auf einen Stein schlug, hat ein anderer mit einer Feile oder einem Wetzstein die Axt geschärft. Die Studen liess man zum Trocknen liegen, legte sie im Sommer auf grosse Haufen und trug sie im Vorwinter zum Haus. Zusätzlich zu den Studen hat man auf dem Berg im Moor Turben gestochen". Konrad Mattli, Gwüest (Bauer, Wirt, Strahler, Jäger, Hüttenwart)
Das Projekt gegen die Erle ist stark verbunden mit der Wiedereinführung des Engadiner Braunschafes (Pro Specie Rara). Ohne dieses knospen- und rindenfressende Schaf wäre ein Wanderherden-Projekt nicht vorstellbar.
Mit diesem wahrhaft schmucken Schaf will man den Erlenwäldern Herr werden. Die mechanische Rodung und Säuberung von Alpweiden würde jeder Romatik entbehren und wäre zu kostspielig. Die Biolog*innen wollen hinaus in die Natur, sie wollen mit den Schafen gehen. Sie möchten ein wenig Hirtinnen sein, nicht gebückt kartierende Biologinnen. Die noble Idee mobiler Wanderherden bestehend aus Ziegen oder Engadiner Schafen ist auch eine romantische. Mit dem vollen Lohn des Akademikers Schafe hüten, in Goretex gehüllt. Man sieht den Klassenwiderspruch. Der Rückgang bis zur Abwesenheit der Bauernfamilien und ihrem Vieh ist der Grund für die Verbuschung und Verwaldung. Wo kein Bauer, kein Vieh, kein Hirte. Nur noch Stauden !
2020 veröffentlicht der Kanton Uri eine Studie: Grünerlenbestände im Urserntal und deren Auswirkungen auf die Nitrat-Auswaschung und die Treibhausgasemissionen.
Beim Thema Treibhausgasemissionen werden die Emissionen der Grünerlen einer alternativen Beweidung mit Schafen gegenübergestellt. Das durch die Grünerlen emittierte Lachgas entspricht umgerechnet einem CO 2-Ausstoss von rund 2’226 kg pro Hektare und Jahr. Bei der Beweidung mit Schafen entstehen jährlich 2’313 kg CO 2-Emissionen pro Hektar und Jahr. Im Vergleich zum CO 2-Ausstoss der Grünerlen verursacht die Beweidung mit Schafen leicht höhere CO 2-Emissionen. Eine Umnutzung der heutigen Grünerlenflächen durch Beweidung mit Schafen würde somit zu einer Erhöhung der Treibhaus-gasemissionen führen.
Die sehr tiefen Nitratwerte weisen auf qualitativ gutes Trinkwasser hin und stammen mit grosser Wahrscheinlichkeit aus natürlichen Prozessen im Boden. Dass ein Teil des gemessenen Nitrats aus den Grünerlenbeständen stammt, kann aufgrund der Messdaten nicht ausgeschlossen werden. Dieser Anteil ist jedoch vernachlässigbar und aus heutiger Sicht ohne negative Folgen für die Trinkwasserqualität.
Die Grünerle ist zwar kein Baum, aber ein Waldstrauch. Dadurch gelten Gebüschwälder, die im Kanton Uri in der Regel mit Grünerlen oder mit Legföhren bestockt sind, unzweifelhaft als Wald. Es spielt dabei auch keine Rolle, ob die Flächen beweidet werden oder nicht. Von den rund 21’000 Hektaren Wald im Kanton Uri sind rund 3’800 Hektaren oder 18 Prozent Ge-büschwälder. Diese Gebüschwälder sind, wie alle anderen Wälder auch, der Waldgesetzgebung unterstellt. Dementsprechend sind Eingriffe in Gebüschwäldern bewilligungs-pflichtig.
Würde man die Grünerlenbestände im Urserntal trotzdem eliminieren und durch Weiden ersetzen, müssten dazu rund 6’120 Schafe eingesetzt werden. Dies unter der Annahme, dass bei einer Beweidung 6.12 Schafe pro ha eingesetzt werden.